Es war ein Montag vor vielen Jahren. Wie jede Woche an der DILIT, begrüßten wir auch diesen Montag neue Schülerinnen und Schüler. Ich kann mich noch gut an diesen einen Schüler erinnern, welchen ich nach dem Einstufungstest und nach einer kurzen Konversation in eine Anfängerklasse eingeteilt hatte. Der Schüler war mit dieser Entscheidung nicht einverstanden und erklärte mir, etwas aufgebracht, dass er bereits viel italienische Grammatik gelernt hatte… sogar das historische Perfekt! Ich erläuterte ihm, dass mich dies freute, aber wies ihn darauf hin, dass er mir weiterhin auf Englisch Antwort gab. Das ganze Gespräch war auf Englisch gewesen, trotz meiner Aufforderung Italienisch zu sprechen. Schließlich konnte ich ihn doch davon überzeugen eine Probelektion in der Anfängerklasse zu machen. Ein paar Stunden später, nach dem Unterricht, traf ich ihn in der Eingangshalle der Schule an und fragte ihn, wie der Unterricht gewesen sei. „Difficile, difficile“, antwortete er. Und so entschied er sich in der Anfängerklasse zu bleiben.
Hin und wieder geschieht es, dass sich Schüler mehr Grammatikübungen im Unterricht wünschen, da sie das Gefühl haben, ohne diese kein Italienisch lernen zu können. Meiner Meinung nach handelt es sich hierbei um eine Plage, welche bereits seit Jahrhunderten auf der Welt umherwandert und die „Krankheit der Grammatik“ verursacht. Damit will ich nicht sagen, dass die Grammatik eine Krankheit ist, aber sie kann durchaus zu einer werden, wenn man den Unterschied zwischen dem Kennen der Grammatik und dem Können der Sprache nicht versteht. Wenn Sie diese für Synonyme halten oder sogar das Gefühl haben, dass das Lernen der Grammatik wesentlich ist, um eine Sprache zu können, dann sind sie bereits infiziert. Aber bloß keine Sorgen!
Ich möchte diesbezüglich ein paar Worte verlieren, denn auch wenn es den Anschein machen kann, ist nicht immer klar was mit „Grammatik“ gemeint ist. Anhand von der Beobachtung unserer Schülerinnen und Schüler, welche aus der ganzen Welt kommen, kann ich bestätigen, dass die Grammatik überbewertet wird. Damit will ich nicht sagen, dass ich gegen ihren Gebrauch bin. Im Gegenteil, die Grammatik sollte als Werkzeug der Sprache, wie beispielsweise auch das Wörterbuch, benutzt werden. Jedoch bin ich gegen das Auswendiglernen von Listen und Regeln. Der einzige Vorteil des Auswendiglernens ist, dass es uns Sicherheit vermittelt, uns das Gefühl gibt die Regeln zu können. Es vermittelt dasselbe Selbstvertrauen, das der obenerwähnte Schüler hatte. Dieser kannte zwar die Grammatik, konnte dennoch keinen einzigen Satz auf Italienisch sagen.
Um einen realistischeren Blick auf dieses Thema werfen zu können, muss man sich ohne vorgefasste Meinung fragen, welcher Zusammenhang zwischen dem Kennen der Grammatik und der Sprachkenntnis besteht. Dabei kann uns eine einfache Beobachtung helfen: Kinder verwenden schon früh eine ausgeprägte Grammatik, ohne diese je in der Schule gelernt zu haben. Dieselbe Erfahrung machen auch viele, die eine Sprache auf die „natürliche“ Weise lernen, beispielsweise Personen, die von einer anderen Sprache umgeben sind, die mit ausländischen Freunden kommunizieren oder die einen langen Auslandsaufenthalt machen.
Früher lernte man die Sprachen nur auf natürliche Weise, aus dem einfachen Grund, dass es noch keine Grammatik gab. Die Griechen, die Gebildeten des Mittelmeers, gaben den Leuten, die nicht gut Griechisch sprachen, den Namen Barbaroi (Stotterer). Im 2. Jahrhundert v.Ch. betrachtete Dionysios Thrax als allererster die Sprache und zwar die griechische Sprache. Aus seinen Forschungen resultierte das Konzept des Subjekts, Prädikats und Objekts, welches bis heute bestehen blieb.
Unter anderem stammt das Wort ‚Grammatik‘ vom griechischen Wort grammatiké (tékhnē), dessen Bedeutung („Die Kunst, die Buchstaben des Alphabets zu schreiben“) aber näher an der Definition der Kalligraphie („Kunst des Schönschreibens“) ist.
Aber mit Dionysios Thrax wurde die Kunst der Analyse geboren. Der Grammatiker war ein Beobachter von Phänomenen, kein Diktator der Sprache. Die Werke von Platon, Euripides, Diogenes, Herodot, Euklid, Sappho, Homer, Aischylos und vielen anderen wurden vor jeder grammatikalischen Regel geschrieben, aber werden bis heute noch in Schulen und Universitäten behandelt.
Ein Grammatikbuch, wenn man darüber nachdenkt, reduziert die Sprache auf bestimmte Regeln, da der Autor an eine bestimmte Anzahl von Seiten gebunden ist. Was in diesen Seiten keinen Platz findet, wird als Ausnahme definiert. Dazu kommt, dass der Autor die Erwartungen der Leser erfüllen muss. Welches sind diese Erwartungen? Die Schüler erwarten Listen mit Regeln, Verben, Pronomen, … wie sie in jedem Schulbuch zu finden sind. Wenn es keine Listen hat, dann ist es keine Grammatik!
Die Sprache selbst ist jedoch eine Erweiterung von Wörtern und deren Kombinationen, die uns erlaubt über Kunst, Astrophysik, Philosophie, Thermodynamik, Psychologie, Biochemie, etc. zu reden. Die Aufgabe der Sprache ist es sehr komplexe Konzepte, die wir in unseren Köpfen bilden und welche wir „Ideen“ nennen, zu übersetzen und zu artikulieren.
Diese Übersetzung begann bereits in den Tiefen der Vorgeschichte, als unsere entfernten Verwandten die ersten Laute erzeugt haben, die mit der Zeit zu unseren Sprachen wurden.
Aber anhand von welchen Kriterien erzeugten und erzeugen wir Menschen diese Laute?
Die Sprache entstand also aufgrund des Bedürfnisses die eigenen Gedanken und Absichten zu teilen und anhand der kreativen und fantasievollen Umsetzung dieses Bedürfnisses. Deshalb war die Sprache stets nur für eine bestimmte Gemeinschaft verständlich, denn jeder Zusammenhang zwischen einem Laut und einem Objekt, einer Handlung oder einem Konzept ist völlig willkürlich.
Die Sprachen unserer Vorfahren bestanden aus Rufen, Grunzen, Lippenschnipsen, Zischen, … aus gemeinsamen Lauten. Diese Klänge wurden mit der Zeit verfeinert, aber die in den obengenannten vier Punkten dargelegten Konzepte sind nach wie vor gültig.
Die Grammatik entstand erst viel später als ein Versuch, die Sprache, die innerhalb der Grenzen von Definitionen kodiert ist, zu standardisieren. Aber aufgrund der überwältigenden menschlichen Kreativität befindet sich die Sprache in ständiger Entwicklung. Außerdem haben Sprache und Grammatik eine unterschiedliche Funktion: Die Grammatik sucht die Logik, die Sprache nicht. Denn die Funktion der Sprache ist es, einer unsichtbaren und unhörbaren Idee eine sichtbare, explizite, hörbare Form zu geben.
Wenn man die Sprache analysiert, scheinen diese Widersprüche also offensichtlich zu werden. Muttersprachler nehmen die Zusammenhänge zwischen den Bezeichnungen und den Objekten, Handlung oder Ideen als logisch wahr, wenn sie in Wirklichkeit aber nur gewohnt und vertraut sind. Man nennt sie schließlich auch „Muttersprache“.
Folglich sollten wir, wenn uns beim Lernen einer neuen Sprache etwas nicht logisch erscheint, dies von einer anderen Perspektive betrachten. Wir sollten es als Meisterwerk der Kreativität dieser Sprachgemeinschaft ansehen. Wenn wir die Vorurteile überwinden, werden wir offener und gelassener gegenüber einer neuen Sprache und schätze so auch die in jeder Sprache enthaltenen künstlerischen Schöpfungen. Und schon sind wir nicht mehr von der Krankheit der Grammatik betroffen!
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